Der hellenische Patient

Die Griechen ächzen unter den Sparmaßnahmen, aber noch ist keine Besserung in Sicht

Wenn die Nacht anbricht, wird der Syntagma-Platz im Zentrum Athens zum Treffpunkt der Verzweifelten. Junge und Alte, Studenten, Rentner und Arbeitslose versammeln sich auf dem weitläufigen Gelände unterhalb des griechischen Parlaments. Ein Mikrofon ist aufgebaut, jeder darf mal ran und seinen Frust rauslassen über die Reformen, die neuen Steuern oder gleich über das ganze „System“. Ein Stimmungsventil, eine Art Speakers’ Corner in jener Stadt, die sich die Wiege der Demokratie nennen darf.

Kostas, ein kurzhaariger junger Mann in Jeans und T-Shirt, steht etwas abseits und raucht. „Eigentlich bin ich ja auf deren Seite“, sagt er und zeigt auf die nächtliche Versammlung. Aber schon morgen könnte er den Protestierenden wieder gegenüber stehen – mit Helm, Schild und Gummiknüppel.

Kostas, 24, ist Polizist. Gut 1000 Euro hat er im Monat, was wirklich nicht viel ist in einer Stadt wie Athen. Doch bald werden es noch mal 200 Euro weniger sein, so will es die Regierung in ihrem Kampf gegen die drohende Staatspleite. Für Kostas bedeutet das, dass er wohl seine kleine Wohnung verlassen muss, für die er 400 Euro monatlich zahlt. „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, sagt er. Vielleicht wird er zurück zu seinen Eltern ziehen.

Auf die Frage, wer Schuld sei an dem Schlamassel, hat der junge Grieche nur eine Antwort parat: „Die da oben.“ Nicht auf Brüssel ist er sauer, nicht auf den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder auf die deutsche Bundeskanzlerin und ihre Ratschläge, nein: auf die eigene Regierung und das Parlament. Seit Jahrzehnten, so Kostas mit Verachtung in der Stimme, hätten die hellenischen Politiker versagt. Korruption, Vetternwirtschaft, eine aufgeblähte Verwaltung – all die Missstände seien von den beiden großen Parteien, der derzeit regierenden sozialdemokratischen Pasok und der konservativen Nea Dimokratia, geduldet und gefördert worden. „Ich schäme mich, dass wir eure Hilfe brauchen, aber alleine schaffen wir es nicht mehr.“

Das scheint eine verbreitete Haltung zu sein. Wer in diesen Tagen Griechenland bereist, der begegnet einer verunsicherten, deprimierten Nation. 99 Prozent der Bevölkerung, so eine EU-Umfrage, sehen die wirtschaftliche Lage negativ. Knapp 90 Prozent misstrauen der eigenen Regierung unter Führung des Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou. Diese hat dem Land – getrieben von der „Troika“ aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF – eine Rosskur auferlegt, die es so noch in keinem europäischen Land gegeben hat.
Ein paar Fakten: Die Staatsbediensteten mussten Einkommenskürzungen von mindestens 20 Prozent hinnehmen, Zehntausenden droht die Entlassung, Löhne und Renten sind teils kräftig gesunken, gleichzeitig stieg die Mehrwertsteuer. Die Arbeitszeiten wurden heraufgesetzt, das Renteneintrittsalter ebenfalls. Die Arbeitslosigkeit liegt bereits über 16 Prozent, Tendenz steigend.

Kein Wunder, dass die Leute resignieren. „Für mich gibt es hier keine Zukunft mehr“, sagt die 22-jährige Christina Vasilakis, die an einem Kiosk unter der Akropolis eine Zeitung kauft. Sie sieht sich nach einem Studienplatz im Ausland um. Das tun offenbar viele junge Griechen. Aus der deutschen Botschaft in Athen ist zu hören, dass die Zahl derer, die sich nach Austauschprogrammen erkundigen, zuletzt deutlich gestiegen ist.

„Die Leute sind wütend. Sie haben Angst, und sie erwarten nichts von der Zukunft“, sagt Antonis Trifillis, Vorstandsmitglied des Medienunternehmens Lambarkis Press. Trifillis ist viel herumgekommen in seinem Leben, er hat bei der EU-Kommission in Brüssel gearbeitet und auch die Entwicklung in den osteuropäischen Ländern verfolgt. „So eine ähnliche Stimmung wie jetzt“, sagt er, „habe ich nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland erlebt.“

Der Vergleich ist gar nicht so abwegig. Wie die DDR krankt auch Griechenland an den Widersprüchen seines ineffizienten Wirtschaftssystems. Fast eine Million Staatsbedienstete hat das Elf-Millionen-Einwohner-Land. Das heißt: Jeder vierte erwerbstätige Grieche wird komplett von Steuergeldern bezahlt. Selbst Regierungssprecher Ilias Mossialos redet von einem „dysfunktionalen Staat“ und moniert die „Unproduktivität“ der Beamten. Bezeichnend: Eine neue Steuer für Hausbesitzer soll mit der Stromrechnung eingetrieben werden. Zu gering ist offenbar das Vertrauen in die Steuerbürokratie.

So sehr Griechenland in der Vergangenheit über seine Verhältnisse gelebt hat, so entschlossen betreibt es jetzt seine Sparpolitik. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die linke Pasok-Partei, die traditionell von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes unterstützt wird, muss das Problem der überbordenden Staatsschulden in Angriff nehmen.

„Als Oppositionspolitiker hätte ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können, jemals solche Reformen durchsetzen zu müssen“, sagt Umweltminister George Papaconstantinou. Der 47-Jährige sitzt in einem fensterlosen Raum im Keller der Athener EU-Vertretung und erläutert seine Sicht auf die Dinge. Bis Juni war er selbst Finanzminister und musste mit der „Troika“ verhandeln. Dann hat ihn Regierungschef Papandreou gegen den bulligen und in der Pasok fester verankerten Evangelos Venizelos ausgetauscht. Heute sagt Papaconstaninou: „Was immer nötig ist, um eine Pleite Griechenlands zu verhindern, werden wir tun – ohne Rücksicht auf politische Verluste.“

Allerdings werden die bisherigen Bemühungen nicht nur positiv bewertet. Die teils heftigen Steuererhöhungen haben nach Ansicht von Ökonomen die Rezession noch verschärft. Im Gastgewerbe etwa wirke die neue Mehrwertsteuer in Höhe von 23 Prozent wie eine Strafsteuer, sagt der deutsche Volkswirt Jens Bastian von der Hellenischen Stiftung für Europäische und Internationale Beziehungen. Auch die Körperschaftssteuer von 24 Prozent sei viel zu hoch.

Um 5,5 Prozent wird die Wirtschaft in diesem Jahr wohl schrumpfen. Frühestens Ende 2012, so ein hochrangiger IWF-Vertreter in Athen, könnte Griechenland zu Wachstum zurückkehren. Voraussetzung sei aber, dass die Staatsausgaben weiter gesenkt und die Strukturreformen fortgesetzt werden.

In diese Kerbe schlägt auch die oppositionelle „Nea Dimokratia“. Ihr Vorsitzender Antonis Samaras schimpft gegen die „sozialistische Attitüde“ der Papandreou-Regierung und fordert Steuersenkungen. Allerdings waren es seine Konservativen, die das Land mit in die Krise geführt haben. Die ernüchternden Zahlen dazu hat Regierungschef Papandreou nach seinem Wahlsieg 2009 veröffentlicht. Eine Große Koalition aus nationaler Verantwortung wird es in Griechenland wohl nicht geben. Zu groß ist die Polarisierung zwischen den beiden großen Parteien.

Mit wem man auch spricht in Athen, der Eindruck verfestigt sich, dass es nicht nur um den Haushalt geht, sondern dass ein jahrzehntelang gewachsenes klientelistisches System aufgebrochen werden muss. Das betrifft zum Beispiel die „geschlossenen Berufe“. Etwa 150 gibt es davon, sie werden vom freien Markt abgeschottet wie mittelalterliche Zünfte.

In Athen etwa hat sich ein lukrativer Handel mit Taxikonzessionen entwickelt. Bis zu 100 000 Euro werden für die streng limitierten Lizenzen gezahlt. Dass die Regierung das Gewerbe nun endlich öffnen will, hat wütende Proteste der Betroffenen hervorgerufen. Regelmäßig blockieren die Taxifahrer mit ihren gelben Wagen die Innenstadt und strapazieren damit die Geduld der Hauptstädter.

Das tun aber nicht nur sie. Kommunisten, Gewerkschaften, Lehrer, Studenten – es gibt kaum eine Bevölkerungsgruppe, die nicht auf die Straße geht. Zusätzliche Spannungen entstehen durch die Äußerungen ausländischer – vor allem deutscher – Politiker über eine griechische Zahlungsunfähigkeit. „In diesem Klima eine Atmosphäre des Wachstums zu schaffen, ist nicht gerade einfach“, sagt Mihalis Chrysocoidis, der Minister für wirtschaftliche Entwicklung.

Rund 50 Milliarden Euro an Spareinlagen haben die Griechen seit dem Sommer von ihren Konten abgezogen, berichtet Vassilis Rapanos, der Präsident der Griechischen Nationalbank, der größten Privatbank des Landes. „Im Juni haben die Leute in Massen 200er und 500er Scheine abgehoben. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich das Geld unters Kopfkissen legen.“ Die Mittel fehlen den Banken dann wieder, um der ohnehin darbenden Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen. Ein Teufelskreis. Acht hellenische Geldinstitute sind vergangene Woche von der Ratingagentur Moody’s herabgestuft worden.

Und Fortschritte? Die gibt es, auch wenn sie klein sind. Immerhin haben sie jetzt eine „24-Stunden-Agentur“ für Unternehmensgründer. Wo früher Bürokraten den Investoren das Leben schwer machten, soll es nun ganz schnell gehen. Der Export ist wieder leicht angezogen, vor allem Agrarprodukte gehen gut. Und auch die vergleichsweise unterentwickelte Tourismusbranche gilt als Wachstumsmotor. Umweltminister Papaconstantinou schwärmt von einem Megaprojekt names „Helios“: Mit Hilfe deutscher Investoren soll in Griechenland im großen Stil Solarstrom erzeugt werden, der dann wiederum nach Deutschland geliefert werden könnte.

Noch ist es vor allem Hoffnung, die aus solchen Plänen spricht, aber immerhin: Es gibt noch Hoffnung. „Am Ende“, sagt Entwicklungsminister Chrysocoidis, „werden wir ein neues Griechenland haben.“ Aus eigener Kraft, so viel ist sicher, wird das aber nicht gelingen. (Von Henry Lohmar)

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