Flüchtlingsdrama in Griechenland "Hier herrscht Kriegszustand"

Aus Orestiada berichtet Manfred Ertel / DER SPIEGEL

Die griechisch-türkische Grenze gilt als neue Flüchtlingsroute auf dem Weg ins gelobte Land Europa. Doch der Weg ist riskant, viele sind in den Fluten des Evros ertrunken. Wer es dennoch schafft, landet im berüchtigten Lager Filakio - das auch "Griechenlands Guantanamo" genannt wird.

Der Weg in ein neues Leben beginnt für Ahmet Benaraf, 30, an einer öden, grauweißen Blechbude am Rande des Dorfs Filakio. "Athens 60 Euro" steht auf einem selbstgebastelten Schild. Es sind die Bustarife für eine Reise in die rund tausend Kilometer entfernte griechische Hauptstadt.

Zusammen mit seinen Freunden wechselt Benaraf hinter der Hütte schnell seine Kleidung. Die Temperatur liegt bei drei Grad minus, die Schmutzwasserlachen rundherum sind gefroren. Die Nordafrikaner zittern vor Kälte, wenn sie in Strumpfsocken auf matschigem Asphalt stehen und saubere Turnschuhe, frische Jeans und gewaschene Hemden überstreifen. Die alten Klamotten werden achtlos beiseite geworfen. Die Reise in ein neues Leben soll mit sauberer Kleidung beginnen.
Denn zuletzt waren Benaraf und seine Begleiter von Schmutz umgeben. Die Blechbude steht vor dem Eingangstor des derzeit wohl berüchtigtsten Sammellagers für Flüchtlinge in Europa, in Filakio im Nordosten Griechenlands, ein Ort im Drei-Länder-Eck zu Bulgarien und der Türkei. 372 Flüchtlinge können hier eigentlich untergebracht werden, hinter doppelten, drei Meter hohen Stacheldrahtverhauen. Tatsächlich sind es derzeit aber zwischen 700 und 800, erzählt ein Wachmann - und fügt hinzu: "Willkommen in Guantanamo Griechenland".

Das Sammellager in Filakio ist die zentrale Anlaufstelle, seit ein 12,5 Kilometer langer Landstreifen in der Nachbarschaft zum Highway für illegale Flüchtlinge aus der halben Welt auf dem Weg nach Europa geworden ist. Auf rund 200 Kilometern Länge trennt der Grenzfluss Evros (Maritza) die Türkei von Griechenland. Nur zwischen dem Kaff Kastanies ganz oben im Nordosten und Nea Vissa schlängelt sich der Fluss ins türkische Hinterland Richtung Edirne. Die Grenzlinie verläuft hier durch Wiesen und Felder. Zwei türkische Brücken führen in der Nähe über den Evros. Es sind diese Bedingungen, die den Landstrich zum Einfallstor für Flüchtlinge machen.

Mit dem Billigflieger nach Istanbul

Rund 27.000 Illegale wechselten hier allein im vergangenen Jahr die Seiten, dazu kamen weitere 12.000, die es in unmittelbarer Nachbarschaft an seichten Stellen über den Fluss schafften. "Hier herrscht Kriegszustand", sagt Georgios Salamangas, 54. Er ist der Chef der Polizeidirektion Orestiada, die zuständig für die Präfektur Evros und damit für gut 90 der 210 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und Griechenland ist.

Nun soll ein etwa drei Meter hoher Zaun den Zustrom bremsen. Bis Ende April will die Regierung in Athen ihn fertig montiert haben, Flüchtlingsorganisationen üben scharfe Kritik. Der Drahtverhau mit einem Betonsockel und Sensoren sowie Wärmebildkameras soll zumindest den größten Andrang abwehren. "Wir schaffen das nicht mehr", sagt Athens Minister für Bürgerschutz, Christos Papoutsis, "das ist zu viel für Griechenland." Noch 2009 wechselten in diesem Abschnitt gerade mal 3520 Flüchtlinge die Seiten, im vorigen Jahr kamen an vielen Tagen 200 bis 300.

Früher stammten sie vor allem aus Afghanistan, aus dem Irak und den palästinensischen Gebieten - und waren auf der Flucht vor dem Krieg. Seit die Flüchtlingsströme vor den härteren Kontrollen in Spanien und Frankreich nach Osten ausgewichen sind und die Türkei auch noch Visa-Freiheit für einige nordafrikanische Staaten eingeführt hat, kommen die Flüchtlinge jetzt vor allem aus Marokko, Algerien und Tunesien. "Die kannten wir hier vorher gar nicht," sagt Salamangas.

Gemeint sind Menschen wie Ahmet Benaraf. Der junge Tunesier ist mit dem Billigflieger nach Istanbul gekommen, mit dem Bus weiter nach Edirne gefahren und dann zu Fuß über die Grenze gegangen. In einer Stunde ist das für einen guttrainierten jungen Mann locker zu schaffen - vor allem, wenn er allein ist, wie er sagt.

Benaraf will nach Rimini zu seiner Familie, behauptet er. Geld für die Fähre nach Italien hat er nicht. "Allah wird mir helfen", sagt er und steigt in den Bus.

2. Teil: "Sie sind völlig sinnlos gestorben"

Galal Hani, 30, aus Marokko will auch nach Italien. Dort lebt angeblich seine Ex-Freundin mit dem gemeinsamen Baby: "Ich will dichter bei meinem Kind sein." Solche Geschichten erzählen sie fast alle hier: Irgendeinen Cousin in Europa hat fast jeder, und arbeitslos waren sie zu Hause so ziemlich alle. Ali Abdullah, 25, aus Algerien zieht es zum Beispiel zu einem angeblichen Bruder nach Paris, der bereits seit zehn Jahren an der Seine lebt und angeblich seinen Flug bezahlen will.

Es sind auffällig viele Nordafrikaner unter den Flüchtlingen, rund 80 Prozent schätzen die Sicherheitsbehörden, fast alles junge Männer. Sie haben keine Papiere, sind auffällig häufig am 1. Januar irgendwann Anfang der achtziger Jahre geboren, mindestens genauso viele sind erfahrene Hilfen in Küchen und Restaurants.

Einsatz am großen Loch

Der Weg über Istanbul nach Filakio oder in eines der angrenzenden griechischen Dörfer ist "sicherer, einfacher und billiger" als frühere Routen, weiß Polizeichef Salamangas. Der grauhaarige Beamte mit dichtem weißen Schnauzer sitzt zwischen griechischer und europäischer Flagge und klagt über einen "Kontrast der Gefühle". Mindestens 21 Menschen sind im vorigen Jahr beim Versuch, den reißenden Evros zu überqueren, ertrunken, vier Flüchtlinge kurz vor Weihnachten am Ufer erfroren. "Sie sind völlig sinnlos gestorben", sagt der Polizeidirektor, "sie haben für eine bessere Zukunft ihr Leben aufs Spiel gesetzt."

Gut 200 Beamte der EU-Grenzmission Frontex sind seit 1. November angesichts des Ansturms hier im Einsatz, der Großteil davon am "Brennpunkt" im Norden, den Gennaro di Bello, 42, gern "das große Loch" nennt. Di Bello ist trotz seines ungewöhnlichen Namens Leiter des deutschen Kontingents mit 27 Beamten und zugleich Kontaktoffizier für alle anderen europäischen Grenzpolizisten in Orestiada, der Provinzmetropole. Die genaue Zahl darf er nicht nennen, nur, dass im November das größte Kontingent da war und alle 26 EU-Mitgliedsländer daran beteiligt waren. "Wir sind Europäer, wir halten zusammen," sagt der Wuppertaler Hauptkommissar von der Bundespolizei.

Sein Kollege Marco Weise aus Görlitz, der eine Grenzpatrouille verschiedener Nationalitäten anführt, soll mit seinen Kollegen dafür sorgen, "dass das Problem in der Türkei bleibt", wie er ganz offen einräumt. Der Zaun wird viele Flüchtlinge nicht abhalten, sich auf den Weg zu machen. "Aber er ist eine Abschreckung und gibt uns mehr Zeit, zu reagieren", sagt Di Bello.

"Ich schäme mich für die Zustände"

Wer es bisher geschafft hat, kommt zunächst nach Filakio. Von außen sehen die beige und ocker getünchten Gebäude des Sammellagers noch einigermaßen beschaulich aus. Erst bei näherem Hinsehen kann man die wahren Verhältnisse erahnen. Hinter den Stacheldrahtverhauen quellen die Müllcontainer über. Dutzende offene Plastiksäcke und lose Wäschehaufen türmen sich daneben, Ratten huschen über den Hof. Am Fuße des Zauns modert Kloake vor sich hin, Polizisten betreten die Gebäude oft nur mit Mundschutz.

Rund 1500 Quadratmeter Wohnfläche bietet das Lager, verteilt auf sieben Schlafsäle: einer für Frauen, einer für Minderjährige ohne Begleitung, fünf für Männer. Acht Duschen und acht Toiletten pro Saal, dreimal am Tag "Essen von einem Catering-Unternehmen", wie Polizeichef Salamangas sagt. Putzfrauen, ärztliche Versorgung, öffentliche Telefone, ein asphaltiertes Sportfeld. Auf dem Papier liest sich das alles ganz gut.

Die Praxis sieht anders aus. Wenn Filakio mit 800 Flüchtlingen und an schlimmen Tagen auch mal mehr hoffnungslos überbelegt ist wie die letzten Tage, dann quetschen sich die Menschen in den langen Reihen mit Doppelstockbetten, die dicht an dicht gestellt sind. "Wir schliefen auf den Fußböden, in den Gängen steht Wasser", erzählt Nazip Gnaoui, 28, aus Tunis. Duschen seien kaputt, Toiletten funktionierten häufig nicht, die Verpflegung sei katastrophal. "Ein dreckiger Platz", sagt der junge Tunesier.

"Wir versuchen, menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, so gut es geht", sagt Polizeichef Salamangas, aber die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlingsmassen "übersteigt völlig unsere Möglichkeiten". Bürgerschutzminister Papoutsis, obwohl erst seit September Regierungsmitglied in Athen, hat öffentlich eingestanden: "Ich schäme mich für die Zustände."

Doch dort hinzukommen, ist immer noch besser als das Schicksal jener Flüchtlinge, deren Weg in eine bessere Welt abseits auf einem abgelegenen Hügel bei Sidero endet, gerade mal gut 70 Kilometer vom Sammellager Filakio entfernt. Nur über einen unwegsamen Sandweg kommt man zu einem anonymen Massengrab, in dem 167 tote Illegale verscharrt sind, fast alle ertrunken auf ihrem Weg ins neue Glück.

Kein Grabstein für die Toten

Die unwürdige Ruhestätte ist seit einem Monat "legalisiert", so nennt es jedenfalls der damals noch zuständige Vizepräfekt der Region, Jannis Papaioannou. Gemeint ist, dass die Behörden einen hohen Drahtzaun um das Gelände gezogen und es mit einem wuchtigen Eisengatter versperrt haben, um den Ort vor Neugierigen zu schützen. Es sieht aus wie auf einer Sondermülldeponie.

Die sterblichen Überreste der muslimischen Flüchtlinge liegen hier notdürftig verscharrt, in Sichtweite der Moschee von Sidero, wo es eine islamische Minderheit gibt. Hastig aufgeschüttete Sandhügel bedecken die Grabstätten, kein Hinweis auf einen Friedhof, kein Schild, das Aufschluss über das tragische Schicksal der Toten gibt.

Ein Hinweis, der über die Grabstätte und das Schicksal der Begrabenen aufklärt, soll nun demnächst doch angebracht werden, mehr aber auch nicht. Grabsteine, wie sie auf den anderen muslimischen Friedhöfen im Ort bei aller Schmucklosigkeit die Regel sind, soll es auch in Zukunft nicht geben. "Was sollen wir denn schreiben?", sagt Mehmet Serifdamatoglou, 56, der Mufti von Sidirio. Und überhaupt: "In Medina, wo der Prophet begraben ist, gibt es auch keine Grabsteine."

Mitarbeit: Ferry Batzoglou

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