«Alles hast du, Hellas, mir genommen»

Griechenland hatte einst leidenschaftliche Freunde in Europa
Blick auf die Akropolis von Athen, 1872. (Bild: pd)

Die Turbulenzen um Rettungspakete und -schirme lassen fast vergessen, dass Griechenland einst begeisterte Freunde in Westeuropa hatte. Der Philhellenismus als Idealisierung einer entrückten Vergangenheit lebt freilich in Griechenland selbst fort.

«Alles hast du, Hellas, mir genommen.» Voller Zuversicht war Gottfried Müller aus Bremen 1822 zusammen mit seinem Freund Georg Dunze nach Griechenland aufgebrochen, um als Freiwilliger für die griechische Unabhängigkeit zu streiten. Doch dort flocht man «Deutschlands Söhnen» keinen Kranz aus grünem Lorbeer. Dunze ging elendig an einer Seuche zugrunde, und Müller kehrte verarmt in die Heimat zurück. Seine Frustration kleidete er in Verse: «Zu dir eilt' ich mit der Jugend Sehnen, / Von dir scheid' ich mit ohnmächt'gen Tränen.»

Einfalt, Grösse, Freiheit

Das Verhältnis zwischen Westeuropa und Griechenland war und ist schwierig. Die Geschichte der Wirrungen beginnt vor zweihundert Jahren mit den Philhellenen, den «Griechenfreunden», die erst das Land der Griechen mit der Seele suchten und dann einen griechischen Staat mit der Waffe gründen wollten. Die Ernüchterung kam rasch, als man im «Land der schönen Trümmer» leider nicht das schwärmerisch verehrte alte Hellas, sondern das sieche moderne Griechenland fand.

Den Anfang machte Mitte des 18. Jahrhunderts Johann Joachim Winckelmann. Die «edle Einfalt» und «stille Grösse» eines zeitlos schönen und autonomen Menschentums fand der Sohn eines Schusters in der griechischen Kunst. Seine Verherrlichung der griechischen Antike hatte aber auch eine politische Dimension, denn in Übereinstimmung mit der emanzipatorischen Tradition der Aufklärung machte Winckelmann Hellas nicht nur zum Zentrum künstlerischer Idealität, sondern zugleich zum Ort politischer Freiheit. Die Griechen-Begeisterung erfasste ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert ganz Europa und Nordamerika. Das christliche Land sollte von der muslimischen Herrschaft befreit werden. Der Zeitpunkt schien ideal, da das Osmanische Reich nach der katastrophalen Niederlage im Krieg gegen Russland in einer tiefen Krise steckte und zentrifugale Kräfte in den Provinzen nicht mehr kontrollieren konnte.

Die Restauration nach dem Wiener Kongress liess dann viele europäische Liberale sehnsüchtig nach Hellas blicken. Je schärfer die Heilige Allianz gegen revolutionäre Bewegungen vorging, umso mehr wünschte man ein freies Griechenland als europäischen Modellstaat herbei. Der Philhellenismus hatte eine kompensatorische Funktion, und die Idealisierung des antiken Hellas ging einher mit demokratischen und nationalen Sehnsüchten.

Als im März 1821 nach siebenjährigen Vorbereitungen der griechische Aufstand gegen die osmanische Herrschaft ausbrach, führte der Einsatz neuer Medien zu einer Nationen und Stände übergreifenden Mobilisierung. Die Philhellenen waren ein bunt gemischter Haufen. In Frankreich und Italien ergriffen vor allem die Bonapartisten und einige Berufsrevolutionäre Partei, in Grossbritannien und Deutschland Bildungs- und Besitzbürger. Der Adel und die Königshäuser waren hingegen wenig angetan – mit berühmten Ausnahmen wie dem englischen Dandy Lord Byron oder dem Bayernkönig Ludwig I. Aber Metternich verurteilte die griechische Erhebung als Teil einer internationalen Verschwörung, die den Frieden in Europa gefährde.

Die liberale und nationale Begeisterung war zunächst nicht zu bremsen. Im süddeutschen Raum und in der Schweiz schossen Philhellenen-Vereine wie Pilze aus dem Boden. Auch Nachfahren Wilhelm Tells brachen gen Hellas auf, unter ihnen der Zürcher Arzt Johann Jakob Meyer, der in Mesolongi mit Byrons Geld die erste griechische Zeitung herausbrachte, in der er republikanische Parolen verkündete. Andere wirkten von der Heimat aus: Der steinreiche Genfer Bankier Jean-Gabriel Eynard sammelte Geld, kaufte versklavte Griechen frei und koordinierte die europäischen Aktivitäten. Seine ökonomische Kriegsführung sollte sich als wirksamer erweisen als die Feuerkraft der gut tausend Freiwilligen, die in den Kampf zogen. Eindrucksvoll demonstrierte er, wie politische, philanthropische und wirtschaftliche Interessen in der Griechenland-Hilfe zueinander fanden.

Die Leidenschaft der Kriegsfreiwilligen kühlte jedoch rasch ab. Schon 1823 waren die Westeuropäer, die nach Hellas gekommen waren, desillusioniert. Die inneren Querelen der Griechen stiessen sie ebenso ab wie die Exzesse der brutalen Kriegführung. Mehr und mehr ging man dazu über, mit dem Checkbuch zu helfen und der griechischen Bevölkerung Care-Pakete zu schicken. Die Philhellenen konnten die griechische Unabhängigkeit weder herbeikämpfen noch herbeireden. An die Bildung einer hellenischen Nation war erst zu denken, als sich die Grossmächte England, Frankreich und Russland aus politischem Kalkül im östlichen Mittelmeerraum einmischten. Nach der Niederlage in der Seeschlacht von Navarino (1827) musste die Hohe Pforte 1830 einen unabhängigen griechischen Staat anerkennen, der die Peloponnes, Mittelgriechenland, Euböa, die Kykladen und die nördlichen Sporaden umfasste. Die Mehrheit der Griechen lebte weiter im Osmanischen Reich und hatte keinen Platz im neugeschaffenen Staat, an dessen Spitze nach einem republikanischen Zwischenspiel 1832 der Wittelsbacher Otto I. trat.

Doch was hielten die Griechen von der philhellenischen Geschichtsklitterung? Vor dem Unabhängigkeitskrieg beruhte ihre Identität auf der Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche. Nur privilegierte Griechen, die durch Bildung, Sprachkompetenz und internationale Vernetzung in der osmanischen Gesellschaft herausragten, waren vom Geist der Aufklärung und von der Griechen-Begeisterung der europäischen Intellektuellen beeindruckt. Sie übernahmen die historisch abstruse Idee, die neuzeitlichen Griechen seien die Nachfahren der alten Griechen. Die griechische Nation wurde quasi hegelianisch als überhistorisches, transzendentes Wesen interpretiert und den Griechen die geschichtliche Mission zugeschrieben, Hellas aus der osmanischen Knechtschaft zu befreien, ein an Homer orientiertes «reines» Griechisch wiederzubeleben und ein Königreich zu errichten, das in der Nachfolge Alexanders des Grossen das Morgenland zivilisieren sollte.

Die Vorstellung einer Renaissance der antiken Vergangenheit war ein erfolgreiches Exportprodukt europäischer und nordamerikanischer Philhellenen. Die griechische Identität wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht ethnisch, sondern vielmehr erinnerungspolitisch, das heisst mithilfe der idealisierten antiken Vergangenheit, definiert. Die Majorität der Hellenen blieb allerdings dem kulturellen und religiösen Erbe von Byzanz verbunden, und damit der orthodoxen Kirche. Das säkulare Staatskonzept, das unter dem Regime des Königs Otto von Wittelsbach umgesetzt werden sollte, stiess auf erhebliche Vorbehalte. Der Widerspruch zwischen «europäisch-modern» und «orthodox-traditionell» kennzeichnete die weitere Entwicklung. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Griechen mehrheitlich über das Konzept der Megali Idea, der «Grossen Idee», angesprochen. Der elastische und belastbare Begriff konnte eine demokratische Republik hellenischer Prägung ebenso bezeichnen wie die Verbreitung klassisch-griechischer Kultur im Orient und die Wiederauferstehung des Byzantinischen Reiches. Das ausgehende 19. Jahrhundert erlebte dann die Genese eines griechischen Irredentismus und die Ethnisierung hellenischer Identität nach dem Vorbild anderer südosteuropäischer Staaten. Das neue nationale Programm wurde weniger in der Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich als im Konflikt mit bulgarischen Nationalisten entwickelt und trug zum Untergang des blühenden Griechentums in Kleinasien nach dem Ersten Weltkrieg bei.

Aggressive Erinnerungspolitik

Das 20. Jahrhundert sah in Westeuropa und Nordamerika verschiedene Versuche, das Konstrukt des ewigen Hellas mit neuem Leben zu erfüllen. Sie alle scheiterten, nicht zuletzt an der konsequenten Historisierung des klassischen Altertums durch die Geschichtswissenschaft. Griechenland hat hingegen an dem idealisierenden Antikenbild der liberalen Griechenfreunde aus der Sattelzeit festgehalten. Es sicherte über Jahrzehnte hinweg das Gefühl der Überlegenheit über Slawen und Türken.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Wiedergeburt nationalistischer Stereotype in Südosteuropa haben die griechische Erinnerungspolitik sogar noch aggressiver werden lassen. Die classe politique instrumentalisiert die idealisierte Vergangenheit nach Belieben, um innenpolitische Reformfeindlichkeit und aussenpolitischen Chauvinismus zu rechtfertigen. Mit der Republik Mazedonien wird unter der Parole Makedonia ine elliniki, «Makedonien ist griechisch», erbittert um das Erbe Alexanders des Grossen gestritten. Innerhalb der EU verkündet man die obsolete Botschaft von der besonderen griechischen Mission. Noch in der gegenwärtigen Finanzkrise präsentieren sich Griechen als die wahren Erben der Alten und die Ahnväter der europäischen Demokratie. Doch auch sie sind nicht mehr in Arkadien geboren.

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